fraktaler grüner Planet
Fraktalgenerierter Dschungelplanet Broccoly X

Beim Rechnen machte man in Altertum, Antike, Mittelalter, eigentlich bis spät in die Neuzeit meist einen großen Bogen um das Unendliche. Man berechnete konkrete Sachverhalte innerhalb mehr oder weniger klar definierter Bereiche. Die Unendlichkeit befand sich entweder furchteinflößend vor der sinnstiftenden Schöpfung, noch vor dem Erscheinen der Götter, oder war nach der Apokalypse im ewigen Leben im Jenseits möglich.

Anders ist das in Gegenden, wo dharmische Religionen wie Buddhismus und Hinduismus gelebt werden oder im Taoismus. Dort gibt es keinen Anfang und kein Ende, nur ewige Wiederkehr. Und was uns unendlich lang erscheint, kann eigentlich kurz sein: so dauert zb. ein einziger Tag im Leben des hinduistischen Schöpfergottes Brahma 4,32 Milliarden Jahre. Bis zu seinem nächsten Geburtstag dauert's also noch ein Weilchen... und damit dieser Artikel nicht unendlich lang wird, stürzen wir uns gleich in die abenteuerliche Welt der Mathematik und durchqueren den Ozean der Unendlichkeiten mit zügigen Tempi.

Abgesehen von Aristoteles, der bereits an Zahlenreihen ohne Ende glaubte und Archimedes, der einen Vorläufer der Integralmethode (Exhaustionsmethode) entwickelte, hatte man im Abendland lange eine Heidenangst vor dem Nichts und der Unendlichkeit. Das änderte sich im Bereich der Mathematik im 17.Jahrhundert mit der - voneinander unabhängigen - Entwicklung der Differential- und Integralrechnung (Infinitesimalrechnung) durch Sir Isaac Newton (1642-1726) und Gottfried Wilhelm Leibniz (1646-1716). Sie verwendeten Konzepte wie „unendlich kleine Größen“ (Leibniz' "Monaden") um Flächen oder Änderungen von Kurven zu berechnen. Aber auch der italienische Gelehrte Bonaventura Cavalieri (1598-1647) nutzte bereits "Indivisiblen", geometrische Einheiten ohne Breite.

Diesen mit Unendlichkeit vergleichbaren (unendlich kleinen) Größen fehlte es aber noch an einem streng logisch begründeten Fundament. Auf dieses stellten es dann im 19.Jahrhundert Mathematiker wie der französische Baron Augustin-Louis Cauchy (1789-1857), der böhmische Priester Bernard Bolzano (1781-1848) und der deutsche Mathematiker Karl Weierstraß (1815-1897) - mit präzisen Definitionen von Grenzwerten, Stetigkeit und Ableitung. Aber erst der Erfinder der Mengenlehre Georg Cantor (1845-1918) ermöglichte es, das Konzept des „Kontinuums“ (also der reellen Zahlen) mathematisch sauber zu fassen – die Grundlage für die moderne, rigorose Infinitesimalrechnung.

Unendlich groß

Georg Ferdinand Ludwig Philipp Cantor studierte ursprünglich an der Universität Darmstadt Ingenieurswesen (ab 1860), erkannte aber recht bald, dass sein Hauptinteresse der Zahlentheorie galt. 1862 wechselte er daher ans Polytechnikum in Zürich und 1863 an die Universität in Berlin. Sein Hauptaugenmerk war stets auf Reihen und die Abzählbarkeit von Mengen gerichtet. 1870 gelang ihm die Darstellung einer Funktion als Summe trigonometrischer Reihen (Fourier-Reihen) und 1873 der Beweis, dass die Menge rationaler Zahlen abzählbar ist. Wie in seiner später entwickelten Mengenlehre kam dabei der Zuordnung von Elementen eine entscheidende Rolle zu: jeder rationalen Zahl (aus ℚ) - und jeder ganzen Zahl (aus ℤ) - kann genau eine natürliche Zahl (aus ℕ) zugeordnet werden und umgekehrt.

Georg Cantor lieferte den Schlüssel zur Unterscheidung von Mengen unterschiedlicher Unendlichkeiten, die Kardinalzahlen - und ein paar Paradoxa - gleich mit. Sind Kardinalzahlen zum zählen da, sagen Ordinalzahlen etwas darüber aus, an welcher Stelle etwas in einer Reihe steht.

Die kleinste unendliche Menge bilden u.a. die natürlichen Zahlen (1,2,3,4...), sie bekam von Cantor die Kardinalzahl Aleph-Null ℵ₀. Unsere Intuition sagt uns gleich, dass die Menge der Ganzen Zahlen (...-2,-1,0,1,2...) größer ist, da ja die negativen Zahlen dazukommen. Ein Trugschluss, da beim Zuordnen jeder negativen Zahl immer noch eine weitere höhere positive Zahl zur Verfügung steht - die gehen uns ja nie aus. Daher besitzen beide Mengen die gleiche Mächtigkeit, beide haben die Kardinalzahl ℵ₀. 

Jetzt kann man allein schon zwischen 0 und 1 unendlich viele Brüche produzieren, indem man unendlich lang neue Zahlen in den Nenner schreibt (1/2,1/3,1/4...). Also sollte die Menge der Rationalen Zahlen noch größer sein (schließlich lässt sich ja auch noch im Zähler hochzählen) als die der Natürlichen und der Ganzen Zahlen. Aber auch bei dieser Zuordnung lässt sich immer eine noch höhere ganze Zahl finden, die einem der unendlich vielen möglichen Brüche zugeordnet werden kann. Dieses, für den menschlichen Verstand paradox anmutende Prinzip, wurde vom deutschen Mathematiker David Hilbert (1862-1943) in einem nach ihm benannten Gedankenexperiment sehr schön veranschaulicht:

Hilberts Hotel

Man stelle sich ein Hotel mit unendlich vielen Zimmern vor, die aber alle belegt sind. Kommt ein neuer Gast muss eine Lösung her: jeder bereits einquartierte Gast (Zimmernummer n), zieht dann einfach in das Zimmer mit der Nummer n+1 und schon hat der neue Gast Platz. Das kann beliebig oft wiederholt werden. Kommt dann auch noch eine Busladung mit unendlich vielen neuen Gästen, auch kein Problem: alle bereits vorhandenen Gäste ziehen in Zimmer mit geraden Nummern (sind ja unendlich viele), die neuen nehmen die Zimmer mit ungerader Zahl. So kann man wieder unendlich viele neue Gäste ins bereits unendlich ausgebuchte Hotel aufnehmen. Genauso verhält es sich bei allen Mengen mit Kardinalszahl ℵ₀.

Unendlich viele Unendlichkeiten

Diese unendlichen Mengen mit Kardinalzahl Aleph-Null ℵ₀ (gerade Zahlen, ungerade Zahlen, natürliche Zahlen, ganze Zahlen, rationale Zahlen) haben eines gemeinsam: der Vorgang des Zählens würde zwar unendlich viel Zeit in Anspruch nehmen, aber sie sind zuordenbar und daher abzählbar. Kann man also machen, dauert halt ewig... Immerhin ist nach dieser kleinstmöglichen Unendlichkeit noch nicht Schluss, dann kommen die Zahlen, die darüber hinausgehen. Erhöht sich nach "unendlich" die Ordinalzahl um 1 (zur letzten Zahl der unendlichen Menge wird 1 hinzuaddiert), zählt sie bereits zur Gruppe mit der Kardinalzahl ℵ₁, diese ist dann nicht mehr restlos zuordenbar und daher nicht mehr "abzählbar".

Ordinalzahl wie Kardinalzahl können weiter erhöht werden, man erhält dann immer größer werdende "überabzählbare" unendliche Mengen. Waren die Zahlen mit Kardinalzahl ℵ₀ abzählbar transfinit, sind die mit ℵ₁ bis Aleph-unendlich überabzählbar transfinit. So erhalten wir unendlich viele unterschiedlich große Zahlenmengen. Ob hier dann Schluss ist? Natürlich nicht, das sind erst die kleinsten möglichen Unendlichkeiten, aber beruhigender weise schon unendlich viele.

Ein Jahr später gelang ihm der Beweis, dass das für die reelen Zahlen (ℝ) nicht gilt, diese Menge ist auch nicht abzählbar (daher überabzählbar) und für Cantor stand fest, dass fast alle Zahlen transzendent sein müssen. Das Gegenstück zur Transzendenz bilden die - sich in der Minderheit befindlichen - algebraischen Zahlen, aus denen Polynome gebildet werden können, die stets durch Addition/Subtraktion und Multiplikation/Division in endlich vielen Schritten an eine Nullstelle gebracht werden können. Mit transzendenten Zahlen ist das nicht möglich. Es sind reele oder komplexe Zahlen, die nicht Nullstelle eines (vom Nullpolynom verschiedenen) Polynoms mit ganzzahligen Koeffizienten sind. Jede reele transzendente Zahl ist auch eine irrationale Zahl aus 𝕀. Bekannteste Vertreter der transzendenten Zahlen sind die Kreiszahl π und die Eulersche Zahl e.

Cantor zeigte also, dass die unendliche Menge der reelen Zahlen (alle Dezimalzahlen, inkl. irrationaler Zahlen) größer ist (c>ℵ₀) als die der Menge mit Kardinalzahl ℵ₀. Ob sie aber bereits zu ℵ₁ gehört oder erst später in der Reihe der überabzählbaren transfiniten Mengen auftaucht, ist bis heute ungeklärt. c für "continuum" wird übrigens als c = 2 hoch Aleph-Null definiert. Cantors Kontinuumshypothese lautet: ist c = ℵ₁? Der österreichische Mathematiker Kurt Gödel (1906-1978) bewies 1940, dass diese Hypothese nicht widerlegt werden kann und sein amerikanischer Kollege Paul Cohen (1934-2007) bewies 1963, dass sie auch nicht bewiesen werden kann. Na, immerhin. 

Gödel bewies, dass die Kontinuumshypothese nicht im Widerspruch zu den Axiomen der Mengenlehre steht und konstruierte darauf eine Mengenlehre – das sogenannte konstruktible Universum (L) – in dem die Kontinuumshypothese auf jedenfall gilt. Gödel wird sicher noch ein eigener Artikel gewidmet werden. An ihm und seinen Arbeiten zur Unvollständigkeit von Formalsprachen (wie der Mathematik) kommt man auch in der Philosophie nicht vorbei. Es darf aus Gödels Vorgehensweise gerne der Schluss gezogen werden, dass man jederzeit selbst Systeme erstellen darf, in denen gewisse Gesetzmäßigkeiten gelten und andere wiederum nicht - so lange ihre Axiome (vorausgesetzte, elementare Elemente) klar benannt sind und das System intern konsistent ist. Man muss sich nur beim Verwenden derselben mit anderen einig sein, in welchem System gerade gerechnet wird.

Apfelmännchen

Aus der Arbeit Cantors und seinem Prinzip der Kardinalszahlen ergeben sich weitere, höhere Kardinalszahlen und so sind im 20.Jahrhundert noch eine Menge noch größerer transfiniter überabzählbarer Mengen dazugekommen. Die Möglichkeit mit einer Funktion zu arbeiten, die von den reellen Zahlen in die reellen Zahlen abbildet (R->R, mit Kardinalszahl 2 hoch c), ergibt noch mächtigere unendlich große Mengen an Zahlen. Das wird u.a. auch zum Erstellen einer Mandelbrot-Menge (C->C) genutzt. 

Der französische Mathematiker Benoît Mandelbrot (1924-2010) untersuchte die Dynamik komplexer Zahlensysteme und fand in den immer leistungsstärker werdenden PCs der 80er Jahre eine Gerätschaft zur Visualisierung seiner sogenannten Mandelbrot-Menge. Die Konstruktion des berühmten Apfelmännchens aus so einer Mandelbrot-Menge erfolgt durch unendlich viele Schritte (Iterationen), bei denen in jedem Schritt ein weiteres Muster in kleinerem Maßstab erzeugt wird – ein Konzept, das transfinite Prozesse nutzt.

Die zugrunde liegende Mathematik basiert auf den Arbeiten von Pierre Fatou (1878-1929) und Gaston Julia (1893-1978) aus dem frühen 20. Jahrhundert, aber damals gab es weder die Möglichkeit der raschen Berechnung solcher Mengen, noch für deren Visualisierung. Die daraus errechneten Fraktale sind nicht nur unendlich komplex und selbstähnlich, sie sind auch hübsch anzusehen und weisen oft eine erstaunliche Ähnlichkeit mit astronomischen, geologischen, meteorologischen oder biologischen Strukturen auf. Die Unendlichkeiten stecken überall und Mathematik scheint uns einen Blick in Ewigkeit und Natur gleichermaßen zu ermöglichen. Das ist aber wieder ein anderes Thema für weitere Artikel. Die Menge an interessanten Themen dafür besitzt mindestens die Kardinalzahl Aleph-null!

Kritiker

Der Vollständigkeit zuliebe wollen noch jene erwähnt werden, die Cantors Mengenlehre und seine Kontinuumshypothese zur Gänze ablehnen. Wissenschaft lebt von These und Antithese, auch seine Kritiker haben gute Argumente. Bereits zu Cantors Lebzeiten äußerte  der französische Mathematiker Henri Poincaré (1854-1912) starke Bedenken gegenüber Cantors Arbeit: „Die Mengenlehre ist eine schöne Theorie, aber sie ist gefährlich. Sie führt zu Paradoxien, die die Grundlagen der Mathematik erschüttern. (...) Die Mathematik darf sich nicht in ein Spiel mit Symbolen verwandeln, das den Kontakt zur Wirklichkeit verliert.“ und zur Mengenlehre: „Die Mengenlehre ist eine Krankheit, von der man sich erholen muss.“

Für den österreichischen Philosophen Ludwig Wittgenstein (1889-1951) stellte Cantors Kontinuumshypothese nur eine scheinbare, da bedeutungslose Frage dar. Die Mengenlehre war für ihn ein Sprachspiel ohne realen Bezug. Damit reiht er sich in die zwar nicht unendliche, aber doch recht lange Reihe von Kritikern wie den Vertretern des Intuitionismus, des Konstruktivismus, des Finitismus, des Ultrafinitismus und sogar von zeitgenössischen Mathematikern wie Stephen Wolfram (geb.1959) ein.

Für die einen nur bedeutungs- und sinnlos,  sind solche Spielereien mit Unendlichkeiten für andere grundsätzlich abzulehnen, weil gefährlich. Logische Systeme, die permanent Paradoxa erzeugen, sind in der Tat seltsam und stets zu hinterfragen. So argumentiert Stephen Wolfram nicht konkret gegen Cantor, ersetzt aber Cantors klassische unendliche Mengen durch algorithmische Prozesse. Der Stein der Weisen wurde also auch in der Mathematik noch nicht entdeckt, auch wenn uns Meinungsmacher und Jubelperser das täglich weismachen wollen - auch so eine unendliche, aber wieder völlig andere, Geschichte.