Gilgamesch und Enkidu
Mehr als nur Brüder: Gilgamesch und Enkidu

"Der alles gesehn hat überall, das Land regierte,
Der die Ferne kannte, Jegliches erfaßt hatte,
... er gleichermaßen;
Alles an Kenntnis der Dinge allzumal hatte Anu ihm bestimmt.
Verwahrtes auch sah er, Verborgenes erblickte er;
Hat Kunde gebracht von vor der Sintflut,
Fernen Weg befahren, war dabei matt einmal und wieder frisch,
Auf einen Denkstein hat er die ganze Mühsal gemeißelt.
Die Mauer um Uruk-Gart ließ er bauen,
Um das heil‘ge Eanna, den strahlenden Hort."

So beginnt die erste Tafel des Epos, der ältesten in schriftlicher Form erhaltenen Erzählung der Menschheitsgeschichte. Schreiber im alten Sumer (4500 v. Chr. - 2000 v. Chr.), der Assyrer (1800 v. Chr. - 609 v. Chr.) und der Hethiter (1700 v. Chr. - 1200 v. Chr.) berichten vom Werdegang und der Entwicklung des sagenumwobenen, gottähnlichen Herrschers von Uruk, der Hauptstadt Sumers. Sumer entspricht dem südlichen Teils Mesopotamiens, also der Gegend zwischen Euphrat und Tigris im Gebiet des heutigen Irak, Iran, Syriens, der Türkei und Kuwaits. Die ersten Tafeln mit Teilen des Gilgamesch-Epos fand Hormuzd Rassam im Jahre 1853. Die Übersetzung übernahm George Smith (1872) und gilt daher als deren eigentlicher Entdecker. Die vollständige Erzählung der Sintflut stammt aus babylonischer Zeit (1894 v. Chr. - 539 v.Chr.), in der sumerischen Fassung ist sie nur in Bruchstücken erhalten. Der Großteil der Fragmente des Epos fand man in der über 25.000 Tontafeln umfassenden Bibliothek Assurbanipals (669 v. Chr. - 627 v. Chr.), die bereits 1849 in Ninive (im heutigen Irak) gefunden wurde. Die überwiegende Mehrzahl der gefunden Fragmente befindet sich heute im British Museum in London (UK). Diese spätbabylonische Fassung ist zugleich die umfangreichste, an ihr orientiert sich die folgende Nacherzählung. Das Epos kann auf TechnoSoph|Bücher online gelesen werden. Die ersten 11 Tafeln erzählen die Geschichte, bei der 12. scheint es sich um einen Anhang zu handeln.

Die Erzählung

Nicht nur Positives über Gilgamesch, Herrscher von Uruk, drückten die Schreiber in Keilschrift in die noch feuchten Tontafeln, legendär auch seine Gewaltausbrüche, seine Rohheit und Herrschsucht. Niemand stellte sich ihm ungestraft in den Weg. Im Ballspiel verdrosch er die gegnerischen Spieler, selbstverständlich war sein Recht auf die Entjungferung der Bräute vor der Hochzeitsnacht. Man fürchtete seine Grausamkeit und bewunderte zugleich seine Macht. Er gilt als Erbauer der imposanten, etwa 9 km langen Stadtmauer und weiterer Aufsehen erregender Bauwerke wie des Haupttempels von Uruk, der zu Ehren Ans und seiner göttlichen Gemahlin Eanna (später Ištar) errichtet wurde.

Die Menschen Uruks klagten über die Grausamkeit ihres Herrschers und die Götter erhörten sie. Noch in der ersten, der insgesamt zwölf Tafeln des Epos, erscheint ein ihm ebenbürtiger Gegenspieler: Enkidu. Er lebt in der Wildnis - ein eher der Tierwelt als einem Menschen entsprechendes Wesen - und kennt weder Brot, noch Haus oder Bett. Über Umwege verschlägt es Enkidu an den Hof von Gilgamesch. Dessen königliche Mutter Ninsun war zugleich auch Seherin und bereitet Gilgamesch auf die Ankunft des Wilden aus der Steppe vor. Gilgamesch wiederum ist höchst erfreut: endlich jemand mit dem er sich messen kann, ein ernstzunehmender Rivale. Auf dem langen Weg Enkidus trifft er auf mythologische Figuren wie der Dirne Šamḫat (stellvertretend für Ištars Libido) und Ḫumbaba, dem Wächter des göttlichen Zedernwaldes der Ištar. Die Verführung durch Šamḫat, der Genuss menschlicher Nahrung inklusive Bier machen den edlen Wilden schließlich vollständig zum zivilisierten Menschen. 

In Uruk angekommen treffen die beiden Kontrahenten aufeinander und es kommt zum unausweichlichen Kampf. Dieser endet mit einem Unentschieden und Gilgamesch und Enkidu werden nicht nur innigste Freunde, sondern - durch die Adoption durch die königliche Mutter - Brüder. Gemeinsam fassen sie den Plan Ḫumbaba zu töten um in Ištars Wald Zedern zu fällen (dieser Zedernwald wird im Libanon verortet, der die Zeder heute als Symbol in seiner Flagge trägt). Gilgamesch und Enkidu, mittlerweile unter dem Schutz des Sonnengottes Šamaš und mit einem göttlichen Zeichen im Nacken, machen sich auf den Weg, in der Hoffnung endlich gemeinsam Heldentaten zu vollbringen. Mit der Hilfe Šamaš' überwinden und töten sie Ḫumbaba, der Enkidu mit einem Fluch belegt. Anschließend fertigen die königlichen Brüder aus einer gefällten Zeder eine Tür für den Tempel des Enlil, eines Sohnes des göttlichen An. 

Endlich Helden, kehren die beiden zurück nach Uruk, wo sich plötzlich Göttin Ištar in Gilgamesch verliebt. Selbstbewusst wie halbgöttliche Helden nun mal sind, weist er sie zurück - eine verhängnisvolle Abfuhr: Ištar beschwert sich daraufhin bei Göttervater An. Der schickt kurzerhand den Himmelsstier nach Uruk, wo er Hunderte Krieger tötet und schlimme Verwüstungen anrichtet bis er von Gilgamesch und Enkidu getötet wird. Die anschließende Verhöhnung Ištars bringt das Fass endgültig zum überlaufen und so wird es langsam ungemütlich für das Heldenduo. Enkidu erkrankt und Gilgamesch, der zum ersten mal Angst vor den Göttern zeigt, verweigert ihm seine Hilfe. Enkidu, gequält von allerlei traumhafter Erscheinungen von Dämonen und Göttern, stirbt nach zwölf Tagen.

Gilgamesch trauert um seinen brüderlichen Freund und wird sich seiner eigenen Sterblichkeit bewusst. Angesichts dieser gar nicht göttlichen Eigenschaft beschließt er, diese zu überwinden und macht sich auf den Weg zu Uta-napišti, einem bereits unsterblich gewordenen Urahn. Es wird lange dauern, bis er ihn tatsächlich findet. Sein Irrweg durch die Steppe führt in nach Osten zum Berg Mašu, wo sich der Tunnel befindet, durch den die Sonne täglich zwischen Untergang und Aufgang wandert. Die beiden Wächter - halb Mensch, halb Skorpion - gewähren ihm den Eintritt in den finsteren Tunnel. Nach elf "Doppelstunden" beginnt es darin zu dämmern und nach zwölf "Doppelstunden" ist es wieder hell und Gilgamesch befindet sich im Garten der Edelsteinbäume. Dort begegnet er der göttlichen Siduri, die am Ufer des Meeres der jenseitigen Welt ein Wirtshaus betreibt. Diese hat mit der mittlerweile traurigen Gestalt Mitleid und verrät ihm, dass Uta-napišti zusammen mit seiner Frau auf einer Insel mitten im Meer des Jenseits lebt. Dort leben die Unsterblichen, wo sie - durch das Wasser des Todes geschützt - sicher vor den Sterblichen seien. Nach ein paar Extra-Quests zusammen mit dem Fährmann Ur-šanabi erreicht er tatsächlich die Insel und kann endlich dem Urahn sein Anliegen vortragen.

Warum er nicht unsterblich wie sein Urahn sei, wo er ihm doch in allem gleiche. Uta-napišti, bereit seinem Nachkommen weiterzuhelfen, holt weit aus und erzählt ihm für's erste die Geschichte einer Flutkatastrophe: Gott Enki selbst hatte ihn vor langer Zeit vor einer alles Leben vernichtenden Flut gewarnt, er musste aber Stillschweigen bewahren und durfte niemanden vor der nahenden Gefahr warnen. Daraufhin baute er ein Boot, auf die er seine Frau, seine Sippe und die gesamte Tierwelt der Steppe lud. Nach Ablauf des Wassers wurde er damit belohnt, dass er als einziger Mensch - zusammen mit seiner Frau - von nun an auf dem "Land der Seligen" leben durfte und seit damals unsterblich sei. Auf dem Weg zur Unsterblichkeit möge Gilgamesch doch erst einmal den Schlaf, den kleinen Bruder des Todes, bezwingen. Er stellt ihm die Aufgabe, sechs Tage und sieben Nächte nicht zu schlafen.

Gilgamesch nimmt die Herausforderung an. Während des Schlafes stellt ihm Uta-napištis Frau täglich ein Brot ans Bett, aber dieses bleibt stets unberührt. Ein Zeichen, dass er bei der Prüfung immer wieder versagt hat. Als Gilgamesch die verschimmelten Brote sieht, muss er sich sein Scheitern eingestehen. Wie soll er unsterblich werden, wenn er nicht einmal den Schlaf besiegen kann? Aber immerhin verrät ihm Uta-napišti zum Trost das Geheimnis der ewigen Jugend. Das Geheimnis ist eine Pflanze und er verrät Gilgamesch, wo er sie findet. Dieser gräbt ein Loch und taucht in den sich unter der Erde befindlichen Süßwasserozean, den Abzu. Dort findet er die Pflanze der ewigen Jugend und wird durch die Flut wieder mit ihr ans Ufer der diesseitigen Welt geschleudert, wo bereits Fährmann Ur-šanabi auf ihn wartet. Zusammen machen sie sich auf den Weg zurück nach Uruk. Als sie an einem Brunnen rasten, stiehlt ihm eine Schlange die Pflanze. Diese häutet sich sogleich und Gilgamesch bleibt betrübt mit leeren Händen zurück.

Keine Unsterblichkeit, keine ewige Jugend, nur eines bleibt: die Erkenntnis, dass er nur durch große Werke und als guter und gerechter König zu einem unsterblichen Namen kommen kann. Zurück in Uruk fordert er seinen Begleiter auf, die Stadtmauer zu besteigen und diese als große Leistung seines Erbauers zu bestaunen. Ende gut, alles gut, tausche Unsterblichkeit gegen Weisheit. Und so beschert uns das Gilgamesch-Epos auch gleich noch das allererste Happy End der Menschheitsgeschichte. Ein Ende wie aus dem Bilderbuch, nein - wie auf der bebilderten Tontafel.