Darstellung von Pflanzen
Spätmittelalterliche Darstellung von nicht existierenden Pflanzen und ihren Bestandteilen

Seltsame Bücher gibt's zuhauf, aber nur wenige sind derart mysteriös und rätselhaft wie das 1912 (wieder-)entdeckte Woynich-Manuskript. Benannt nach Wilfrid Michael Woynich (1865 - 1930), wirft sein Inhalt unzählige Fragen auf. Woynich war Buchhändler und immer auf der Suche nach Raritäten. In der Büchersammlung des Jesuitenkollegs Nobile Collegio Mondragone in Frascati (Italien) gelang ihm ein bemerkenswerter Fund: in dem Konvolut, der von ihm erstandenen mehr als zwei dutzend Manuskripte, befand sich ein in mehreren Lagen Pergament gebundenes Buch ohne Titel oder Angabe eines Autors. Voynich datierte seine Entstehung damals auf das 13. Jahrhundert und lag damit falsch, so wie viele der Experten, die sich nach ihm noch mit dem in Geheimschrift verfassten Manuskript beschäftigen sollten. 1962 datierten es unbekannte Fachleute auf 1500, was 2009 an Instituten in Chicago und Arizona präzisiert wurde. Die Radiokarbonanalyse ergab für die untersuchten Pergamentschnipsel einen Entstehungszeitraum irgendwann zwischen 1404 und 1438. Dazu passt auch die chemische Zusammensetzung der verwendeten Farben. Immerhin erscheint eine Fälschung damit ausgeschlossen. Wer waren die Vorbesitzer und könnten diese weitere Informationen liefern?

Vorbesitzer

Davon ausgehend, dass kein Anhänger von Till Eulenspiegel am Werk war, liefert eine kaum leserliche Notiz auf der ersten Seite einen entscheidenden Hinweis: Jacobj 'a Tepenece. Dieser lebte von 1575 bis 1622 und war um 1600 Chemiker und Pharmazeut am böhmischen Hof in Prag. Sein König war Matthias von Habsburg (1557-1619), ein Bruder von Kaiser Rudolf II. (1552-1612). Da Jacobj bereits mit Adelstitel versehen war, kann man davon ausgehen, dass der Eintrag aus der Zeit nach 1608 stammt. Im Konvolut befand sich auch ein Brief des darauf folgenden Besitzers Johannes Marcus Marci (1595-1667), ebenfalls Chemiker, in dem er erwähnt, der Vorbesitzer sei der Kaiser selbst gewesen. Diese noch als plausibel zu erachtenden Angaben führen in Marcis Briefen aber bereits auf Abwege von Deutung und Herkunft, auf denen sich unzählige Geister bis heute verirren. Laut Marci glaubte der Kaiser, der große Naturphilosoph Roger Bacon (ca.1220-1292) hätte schon darin geblättert und schickte damit Finder Woynich (und unzählige Andere nach ihm) in die falsche Epoche. Beim Versuch die Texte des Wunderbuchs zu entschlüsseln, scheiterte auch der tschechische Alchimist und Jurist Georg Baresch (ca.1580-ca.1650), der den beiliegenden Briefen nach als nächster Besitzer gilt. Mit dem potentiellen Nachbesitzer Athanasius Kirchner (1602-1680) verliert sich dann die Spur. Der Deutsche war Jesuit in Rom und es ist gut möglich, dass sein Nachlass irgendwie in die Bibliothek des Jesuitenordens in Frascati gelangte. Eines hatten alle genannten Eigentümer gemeinsam: sie scheiterten an der Entschlüsselung des Textes und der Interpretation der Illustrationen.

Inhalt

Da die Seiten (wahrscheinlich) nachträglich nummeriert wurden, ist zu vermuten, dass in Woynichs Manuskript von den ursprünglich 116 Seiten nur mehr 102 enthalten sind. Aber die haben es in sich. Auf den teilweise wegen ihrer Größe gefalteten Blätter finden sich Abbildungen, die eine Einteilung in sechs Themenbereiche nahe legen. Sicher ist das nicht, schließlich entzieht sich der Text hartnäckig jeder Entschlüsselung und was die Abbildungen darstellen, kann nur vermutet werden.

Die ersten 66 Seiten sind voll mit Abbildungen von Pflanzen, die teilweise den uns bekannten irgendwie ähneln. Die meisten davon erwecken aber den Eindruck, der oder die Illustratoren haben bei ihrer Arbeit auf den Fundus von Visionen psychedelischer Räusche zurück gegriffen. Tatsächlich waren diese auch im Mittelalter nichts Ungewöhnliches. Fliegen- und Zauberpilze gab's u.a. im Bier (ohne Reinheitsgebot) und die regelmäßige Vergiftung durch Mutterkorn (giftiger Getreidepilz) größerer Teile der Bevölkerung ist ebenfalls gut dokumentiert. Diese führten des Öfteren zu Massentanzveranstaltungen, auf denen die berauschten tagelang - meist unfreiwillig - ohne Unterlass tanzten bis der Tod durch Erschöpfung und Organversagen eintrat. Auch das also keine Erfindung der Rave- und Partyszene in den 80ern des letzten Jahrtausends.

Auf die eigenartige Kräuterkunde folgt ein Abschnitt mit Diagrammen mit Sonne, Mond und allerlei Sternen. Es scheint sich dabei um die bekannten Tierkreiszeichen zu handeln, immerhin mit eindeutig romanischen Monatsnamen in lateinischer Schrift, die aber dafür nicht zu den uns bekannten astronomischen und astrologischen Formationen passen. Zwei fehlen, andere sind wiederum doppelt. Regelmäßig dazwischen ein im Manuskript immer wiederkehrendes Motiv: manchmal bekleidete, manchmal nackte Frauen beim Baden in (in diesem Abschnitt hölzernen) Wannen.

Im nächsten Abschnitt gibt es Wannen voll mit schwangeren Frauen, aber die Wannen haben ebenso merkwürdig organische Formen wie die Röhrensysteme, die sie verbinden. Dabei drängen sich Vergleiche mit im Körper liegenden weiblichen Fortpflanzungsorganen auf. Das ermöglicht Interpretationen in Richtung Anatomie oder Bäderkunde (Balneologie). 

Dann folgen geometrische Muster oder mittelalterliche Mandalas (Rosetten), die eher an Arbeiten von Friedensreich Hundertwasser als an nah- und fernöstliche Mystik erinnern. Sie sind teilweise miteinander verbunden und mit langen Textpassagen versehen.

Anschließend ein Abschnitt mit Pflanzenteilen, die von den Pflanzen aus dem ersten Abschnitt stammen könnten. Wieder ergänzender Text und bunte pharmazeutische Gefäße. 

Der letzte Abschnitt enthält nur kurze Texte, jeweils eingeleitet mit Sternchen. Es könnte sich dabei, wenn sich die Sternchen auf den vorigen Abschnitt beziehen, um Rezepte zur Verarbeitung und Nutzung der surreal anmutenden Kräuter handeln.

Entschlüsselung und Deutung

Insgesamt umfasst der Text rund 170.000 Zeichen (oder Glyphen), die entweder in unterschiedlicher Form auftauchen - vielleicht manchmal Zahlen repräsentieren - oder jeweils eigenständige Zeichen sind. Mittlerweile hat man sich auf ein verwendetes Woynich-Alphabet mit 20-30 verwendeten Zeichen geeinigt. Die Liste der daran Beteiligten ist lang und sie wird mangels Erkenntnis immer länger. Woynich selbst versuchte nur die Illustrationen zu deuten, an die Entschlüsselung des Textes wagten sich andere. Die meisten Ansätze und Deutungen sind aber bis heute derart hanebüchen, dass nur wenige hier namentlich erwähnt werden. Die Liste der Beitragenden umfasst Philosophen, Philologen, Physiker, Mathematiker, Mediziner, Historiker, Kryptologen, Linguisten, Journalisten, Botaniker, Kunsthistoriker, Amateurforscher, Mystiker und völlig Verrückte. 

Sehr beliebt in der Frühzeit der Woynich-Forschung war der Konnex zu Roger Bacon, der aber, wie schon erwähnt, dafür gut 300 Jahre zu früh in Oxford und Paris forschte und unterrichtete. Die Unregelmäßigkeiten der Schrift, die den verwendeten Materialien und Schreibgeräten geschuldet ist, wurde als Mikroschrift interpretiert, unzählige Schlüssel und Alphabete entwickelt. William Friedman (1891-1969), Mitbegründer des Vorläufers der NSA (National Security Agency, USA), startete den Versuch mit Hilfe von Computern aus der Lochkarten-Ära den Code zu knacken. Beginnender Weltkrieg und später organisatorische Hindernisse waren aber garantiert nicht das einzige, was ihn an der Entschlüsselung hinderten. Für einen Eintrag in die Liste der Gescheiterten hat es aber allemal gereicht.

Geheimtext in Spanisch, Deutsch, Hebräisch oder Proto-romanisch, Zufallstext, Dichtung, Werk von mittelalterlichen Scherzbolden oder Besuchern aus Parallelwelten, manche haben angeblich Pflanzen wiedererkannt, andere schon 10 Wörter übersetzt und in letzter Zeit beißt sich daran schon Künstliche Intelligenz ihre digitalen Zähne aus, wie immer ein Opfer von GIGO (Garbage In, Garbage Out). Unzählige Bücher, wissenschaftliche Abhandlungen und Dissertationen wurden über das Woynich-Manuskript verfasst und im Mutterland der Ufologen und Verschwörungstheoretiker, der USA, schießen die journalistischen Beiträge dazu inklusive Erklärungsansätze mittlerweile wie die erwähnten Zauberpilze aus dem Boden. 

Dieser Artikel bildet da keine Ausnahme und liefert abschließend den einleuchtendsten Erklärungsversuch für das heute in der Beinecke Rare Book and Manuscript Library der Yale University in New Haven (Connecticut, USA) lagernde Manuskript. Diese Hypothese stammt von einem australischen Forscherteam, angeführt vom Medientheoretiker und Literaturwissenschaftler Keagan Brewer und der Spezialistin für historische Medizin und Gynäkologie Michelle Lewis von der Macquarie University Sydney. Ihnen zufolge handelt es sich um Themen rund um Fortpflanzung und Sexualität inklusive der dazu nützlichen Heilpflanzen. Die Verschlüsselung von Darstellung und Text war notwendig, da dieser Themenkomplex im Mittelalter Tabus berührte, die bei Beschäftigung mit diesen grausamste Folgen nach sich ziehen konnte - schnell war man Hexe oder mit dem Teufel im Bunde. Gestützt wird diese Theorie durch Arbeiten vom mittelalterlichen Gelehrten Johannes Hartlieb (ca.1400-1468), der ebenfalls Verschlüsselung für medizinische Texte verwendete. Aufwand und verwendete, teure Materialien sprechen gegen die Theorie, das Manuskript sei nur Jux und Tollerei. Gegen viele andere Theorien, wie denen, es handle sich um düstere Prophezeiungen, Nachrichten aus einer Parallelwelt oder einer anderen Zeit, spricht die Vernunft.