Kaum ein neuzeitliches philosophisches Werk der westlichen Welt ist derart schwer zu fassen wie das Schaffen von Friedrich Nietzsche. Das gilt im Allgemeinen, aber auch konkret für sein zentrales Hauptwerk "Also sprach Zarathustra. Ein Buch für Alle und Keinen." Das Konzept dieses auch aus literarischer Sicht bemerkenswerten Buches entsteht 1881. Endgültig zu Papier bringt es Nietzsche zwischen November 1882 und Februar 1885. Da er aufgrund des neuartigen Stils damit selbst in seinem engsten Freundeskreis nur auf Unverständnis stößt, schwindet seine Hoffnung, endlich als Schriftsteller erfolgreich seinen Unterhalt bestreiten zu können. So gut wie niemand will es kaufen und so verschenkt er vom vierten Teil des Buches (Kleinstauflage 40 Stück) gerade einmal sieben Exemplare an seine letzten noch verbliebenen Freunde. Es ist mittlerweile gemeinfrei und kann auf TechnoSoph hier online gelesen werden. Der erste Absatz der Einleitung zur Vorrede Zarathustras:
"Als Zarathustra dreissig Jahr alt war, verliess er seine Heimat und den See seiner Heimat und ging in das Gebirge. Hier genoss er seines Geistes und seiner Einsamkeit und wurde dessen zehn Jahr nicht müde. Endlich aber verwandelte sich sein Herz,—und eines Morgens stand er mit der Morgenröthe auf, trat vor die Sonne hin und sprach zu ihr also: ..."
Nach der Ansprache an die Sonne begibt er sich bergab zurück zu den Menschen und trifft im Wald auf den heiligen Einsiedler. Der Heilige liebt die Menschen nicht, er liebt nur Gott. Zarathustra ist es, der die Menschen liebt und ihnen ein Geschenk bringen will: die Kunde vom "Tod Gottes" und ihrer Zukunft als "Übermensch". Dieser entspricht einem Ideal, das - wie es Ideale nun mal so an sich haben - für den Menschen nicht erreichbar sein wird, aber nach dem er streben kann und soll. Der Mensch solle bedingungslos fröhlich die Leere, die sich durch die neue Gottlosigkeit auftut, füllen. Er soll schaffen und schöpfen aus der Lust, ohne Angst, geistreich und ohne stumpfen, überholten Herdentrieb. Nietzsche und sein literarisches Alter Ego feiern das Dionysische, den Mut, die Freude am Leben für sich und seine Mitmenschen. Dagegen steht das von ihm verabscheute Duckmäusertum, das kleinlich Eitle und der ewige Opportunismus, der von der "Sklavenreligion" der Christen zur obersten Maxime erklärt wurde, für das Apollonische. Davon kündet sein Prophet Zarathustra der versammelten Menge auf dem Marktplatz. Diese kennt aber nur Spott und Hohn als Dank für das Geschenk, das ihnen offenbart wird. In ihnen sieht Nietzsche "den letzten Menschen", das Gegenstück zum "Übermenschen". Die Vernunft der Mittelmäßigen und Phantasielosen, die in der Masse konfliktscheu und bequem zu den grausamsten Verbrechen gegen die eigentlich Starken und Großen fähig sind und immer fähig waren, verabscheut er zutiefst. Stets war es im Namen "des Guten" und "des Richtigen" die gesellschaftliche Mitte der Gewöhnlichen, die vor keiner Unmenschlichkeit zurückschreckt, wenn es nur dem Zeitgeist entspricht, opportun und "vernünftig" ist.
Nietzsches Anspruch, aber auch seine Bedeutung für die Nachwelt, waren und sind so groß wie die Gefahr des Missverstehens oder der absichtlichen Fehlinterpretation und des Missbrauchs. Die Ansprüche, die er an uns und an sich selbst stellte, sind nicht erfüllbar. Seine Texte und Aphorismen sind stets voller Paradoxa und zugleich - vielleicht auch gerade deshalb - unglaublich kräftig und prägnant. Leichter zu fassen als seine Schriften sind dagegen die Eckdaten seines Werde- und Untergangs. Sie sind Orientierungsmarken, die dem geneigten Leser wichtige Details zum Zurechtfinden im scheinbar unübersichtlichen nietzscheanischen Chaos bieten. Unter TechnoSoph|Bücher befinden sich noch weitere Werke des großen Denkers und Bücher über ihn: von der von ihm verehrten Lou von Salomé (später Lou Andreas-Salomé) und von Rudolf Steiner, dem Begründer der Antroposophischen Bewegung, der die Totenrede beim Begräbnis hielt. TechnoSoph stellt sich nicht in die schier unendliche Reihe derer, die über Nietzsches Werk philosophieren. Er empfiehlt: selber lesen, es lohnt sich!
Biographie
Friedrich Wilhelm Nietzsche wird am 15. Oktober 1844 in Lützen, Sachsen-Anhalt (D) geboren. Der Sohn eines lutherischen Pfarrers und einer Mutter, deren Vater ebenfalls Pfarrer war, hat zwei Geschwister: die um zwei Jahre jüngere Schwester Elisabeth und einen jüngeren Bruder, Ludwig Joseph, der im Alter von zwei Jahren stirbt. Von 1850 bis 1856 lebt Nietzsche im „Naumburger Frauenhaushalt“, zusammen mit Mutter, Schwester, Großmutter, zwei unverheirateten Tanten väterlicherseits und dem Dienstmädchen. Ab 1854 besucht er das Domgymnasium Naumburg, ab 1858 ist er Stipendiat in der Landesschule Pforta. 1864 beginnt Nietzsche an der Universität Bonn das Studium der klassischen Philologie (wissenschaftliche Erforschung, Interpretation und Analyse klassischer Sprachen wie Altgriechisch oder Latein) und der evangelischen Theologie. Die Burschenschaft Frankonia verlässt er nach einem Jahr, das Verbindungsleben ist nichts für ihn. Ebenso das Theologiestudium, das er nach nur einem Semester abbricht.
1865 folgt er seinem Philologieprofessor Friedrich Ritschl nach Leipzig um dort sein Studium fortzusetzen und wird bald zum Musterschüler seines Professors, der für ihn zur Vaterfigur wird, ähnlich wie später Johann Wagner. Er vertieft sich in die Werke Schopenhauers und Langes und dessen "Geschichte des Materialismus", beteiligt sich 1866 an der Gründung des Klassisch-Philologischen Vereins an der Universität Leipzig und wird 1867 zum Wehrdienst als Feldartillerist einberufen. Dabei stürzt er 1868 vom Pferd und wird dadurch untauglich für den weiteren Militärdienst. In diesem Jahr trifft er zum ersten mal Johann Wagner und seine spätere Frau Cosima. 1869 wird Nietzsche ohne Promotion außerordentlicher Professor für klassische Philologie an der Universität Basel und unterrichtet zusätzlich am Basler Gymnasium am Münsterplatz. Durch den Umzug nach Basel wurde er - auf eigenen Wunsch - für den Rest seines Lebens staatenlos. Er dient trotzdem im Deutsch-Französischen Krieg als Sanitäter, erkrankt schwer an Dysenterie und Diphterie und bleibt gegenüber der Deutschen Reichsgründung und der folgenden Ära Otto von Bismarks stets kritisch.
1872 erscheint Nietzsches erstes größeres Werk, "Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik", in der er in einer Art Kunstpsychologie die Entwicklung der Griechischen Tragödie aus dem Begriffspaar Dionysisch-Apollonisch philosophisch spekulativ zu erklären versucht. Das missfällt den meisten seiner Kollegen, Unterstützung erfährt er durch seinen ehemaligen Studienkollege Erwin Rohde und durch Richard Wagner.
Auch mit den vier "Unzeitgemäßen Betrachtungen" (1873 - 1876) - von Schopenhauer und Wagner beeinflusste Kulturkritik - gelingt ihm kein größerer Erfolg. Die ersten Bayreuther Festspiele (1876) stoßen ihn ab. Das banale Schauspiel und das vulgäre Publikum sind ihm zutiefst zuwider. Er überwirft sich mit Wagner, der in ihm nur einen weiteren Fürsprecher für seine Festspiele sah - auch wegen dessen Antisemitismus. Nietzsche hingegen sah in den Juden die nach langer Unterdrückung gerechtfertigte Elite Europas. Nicht anders entwickelte sich seine Sicht auf Schopenhauer und mit der antimetaphysischen Aphorismensammlung "Menschliches, Allzumenschliches. Ein Buch für freie Geister" (1878) bricht er endgültig mit Wagner und der Philosophie Schopenhauers. Seine seit seiner Kindheit auftretenden Migräneanfälle, eine Magenerkrankung und seine Kurzsichtigkeit verschlimmern sich, so dass er sich 1879 vorzeitig pensionieren läßt.
Von nun an reist er als freier Autor durch Europa, immer auf der Suche nach dem für seine Genesung günstigsten Klima und der Hoffnung endlich eine passende Frau zu finden, am besten aus gutem, finanzkräftigen Hause. Er lebt von seiner bescheidenen Pension und unregelmäßigen Zuwendungen seiner Freunde. Im Stil von "Menschliches, Allzumenschliches" erscheinen "Morgenröte" (1881) und "Die fröhliche Wissenschaft" (1882), aber auch jetzt bleibt der finanzielle Erfolg aus. Der mehrwöchige gemeinsame Aufenthalt mit Lou von Salomé in Tautenburg (D), um deren Hand er über den gemeinsamen Freund Paul Rée anhält, endet nach erfolgreicher Intrige seiner Schwester Elisabeth mit dem Bruch mit Salomé und Rée. Er überwirft sich auch noch mit Mutter und Schwester und kämpft nach weiteren Krankheitsschüben völlig isoliert mit Suizidgedanken. Er flüchtet wieder nach Italien und beginnt mit dem ersten Teil von "Also sprach Zarathustra". Vom geringen Echo dieses epochalen Werkes und dem daraus resultierenden Ausbleiben des erhofften Erfolges haben wir bereits weiter oben gelesen.
1886 erscheint "Jenseits von Gut und Böse". Darin fordert Nietzsche nicht weniger als die endgültige "Umwertung aller Werte", ein Ende der "Sklavenmoral" und "den Willen zur Macht". Damit sieht Nietzsche - zusammen mit Neuauflagen einiger bereits veröffentlichter Werke - sein literarisches Schaffen im Großen und Ganzen als beendet an. Langsam steigt tatsächlich, vom Autor kaum bemerkt, das Interesse an seinen Werken. Sein Gesundheitszustand verschlechtert sich weiter, 1887 erscheint noch "Genealogie der Moral. Eine Streitschrift". Während einer kurzzeitigen Erholungsphase ist Nietzsche im Sommer 1888 in Hochstimmung, die in zunehmendem Größenwahn endet. Noch in diesem Jahr veröffentlicht er gleich fünf Bücher: "Der Fall Wagner", "Götzendämmerung", "Der Antichrist", "Nietzsche contra Wagner" und "Ecce Homo" - ein autobiographisches Werk, in dem er sich selbst als "Schicksal" und "Dynamit", als eine Art "neuen Menschen" bezeichnet. In den sogenannten "Wahnbriefen" unterzeichnet er als "Dionysos" und "Der Gekreuzigte". Kleinere Brötchen bäckt er zu dieser Zeit nicht mehr.
Dem kurzen Hoch folgt der endgültige Absturz: am 3. Januar 1889 erleidet Nietzsche in Turin einen geistigen Zusammenbruch von dem er sich nicht mehr erholen wird. Der Erzählung nach soll er beobachtet haben, wie ein Kutscher seinen Droschkengaul brutal misshandelt, woraufhin der Philosoph das Pferd schluchzend umarmt und zusammenbricht. Er wird in die psychiatrische Klinik in Basel gebracht, dann nach Jena und schließlich nach Naumburg in die Obhut seiner Mutter. Ab 1890 übernimmt seine Schwester Elisabeth die Pflege. Sie bringt ihn nach Weimar, wo er bis zu seinem Tod fast blind und völlig umnachtet am 25. August 1900 stirbt. Zu dieser Zeit beginnen sich immer mehr Intellektuelle, Künstler und Philosophen für Nietzsches Werk zu interessieren. Erst nach seinem Tod beginnt der Aufstieg zu einer der einflussreichsten Figuren der modernen, westlichen Philosophie.
Posthum erscheint 1901 "Der Wille zur Macht". Ein Werk, dessen Veröffentlichung von Nietzsche nie geplant war. Elisabeth kombiniert dabei Textfragmente aus seinem Nachlass neu, lässt Passagen weg und erschafft damit ein Buch eines deutschen Nationalisten, der Nietzsche Zeit seines Lebens nie gewesen ist und das seinen tatsächlichen Gedanken strikt widersprach. Schlimmer noch: als Leiterin des Nietzsche-Archivs in Weimar (1894 - 1935) macht sie aus dem stets autoritätsverneinenden freien Denker, einen stumpfen Blut-und-Boden-Chauvinisten und biedert sich aus Geltungssucht - und weil es ihrer Gesinnung entsprach - den aufstrebenden und später regierenden Nationalsozialisten an, die Nietzsches Werk nur zu gern schamlos für ihre menschenverachtende Propaganda missbrauchten. Bis heute haftet an dem großen Denker dieser schreckliche Makel. Wagners Opern hingegen gelten heute (zurecht) als Höhepunkte spätromantischer Musik und so wird dem glühenden Antisemiten Wagner bis heute uneingeschränkt gehuldigt, der freie Geist Nietzsches weiterhin argwöhnisch belächelt. TechnoSoph stellt sich die Frage: wird das "menschliche, allzumenschliche" der Herde der "letzten Menschen" für alle Zeit den geistvollen "Übermenschen" verhindern und welche Rolle wird dabei moderne Technik spielen? Wahlspruch von Friedrich Wilhelm Nietzsche:
„Increscunt animi, virescit volnere virtus“ („Die Geister wachsen, die Tugend erstarkt durch die Wunde.“), Furius Antias