Sokrates im Dialog
Dialog in den Gassen Athens: für Sokrates ein Dienst an den Menschen, Ziel war stets Erkenntnis

Was ist ein gutes Leben? Was ist gerecht? Was ist Tapferkeit? Sokrates unbändiger Drang nach wirklichem Wissen beschäftigte nicht nur ihn, sondern er beschäftigte damit auch seine Mitbürger. Mit unermüdlichem Fragen und hartnäckigem Zweifel verwickelte er die Bürger Athens im Dialog gern in Widersprüche und sorgte damit regelmäßig für ein Hinterfragen von etablierten Werten und als sicher geglaubtem Wissen. Seine Mitbürger waren stets bewandert in ihren jeweiligen Fachgebieten: der Imker wusste alles über seine Bienen und ihre Futterpflanzen, so wie der Tischler bestens über die Eigenschaften der von ihm verwendeten Hölzer Bescheid wusste. Jeder ein Fachmann auf seinem Gebiet, was ihnen ein sicheres Einkommen und oft auch großen Wohlstand ermöglichte. Wohlstand in Form eines großen Anwesens oder einer reichlich gedeckten Tafel mögen in einer rein auf materielle Werte ausgerichteten Welt als Hinweis auf besondere Klugheit gelten. Sokrates aber strebte nach Weisheit und echtem Wissen in der Welt des Geistes und nach dem Erkennen der ihr innewohnenden Ideale, des "besten Logos", das von Zeit und Ort unabhängige eigentliche Wesen der Sache. Die Philosophie, auch wenn sie unbequem erscheint, sah er als Dienst an der Gesellschaft. 

Von Sokrates selbst sind keine Schriften überliefert. Die überlieferten Dialoge verdanken wir den Aufzeichnungen seiner Schüler Platon und Xenophon. Hier eine kurze Passage eines Dialogs von Sokrates mit Menon, einem adeligen Söldnerführer aus der Stadt Pharsalos in Thessalien, aus Platons Werk "Menon" (um 385 v.Chr.):

Menon: Kann Tugend gelehrt werden, Sokrates, oder ist sie angeboren, oder eine andere Form von Erwerb?

Sokrates: Ich weiß es nicht, Menon, und ich kann dir nicht sagen, ob Tugend gelehrt werden kann. Und ich bin nicht einer derer, die wissen; aber ich will gern mit dir prüfen und herausfinden, wie die Sache steht.

Ein typisches Merkmal seiner Methode war Sokrates' Nicht-Wissen, sprich: der Versuch gemeinsam mit seinem Gesprächspartner eine Antwort auf aufgeworfene Fragen zu finden und nicht als Wissender eine vorgefertigte Antwort zu präsentieren. Erkenntnisgewinn aus einem philosophischen Dialog, der ergebnisoffen mit jedem Interessierten geführt werden kann, war eine neue Methode, mit der er sich von der damals vorherrschenden Strömung der Sophisten unterschied. Diese waren rhetorisch und didaktisch geschulte Weise (sophia, griech. = Weisheit), die ihren Lebensunterhalt mit der Wissensvermittlung oder Beratung verdienten. Ihr Ziel war nicht der Gewinn von Erkenntnis, sondern die argumentative Überzeugung - manchmal auch bewusst manipulativ und irreführend. Recht zu haben und "im Recht zu sein" war das angestrebte Ziel der Sophisten. Für Notare oder Rechtsanwälte sicher die beste Berufseignung- und voraussetzung. Als idealer Philosoph, dem "Freund der Weisheit", gilt aber seit Sokrates der stets kritisch hinterfragende, nichts als gegeben annehmende Denker. Die Philosophen vor Sokrates bezeichnen wir als Vorsokraten, ein Zeichen für die Bedeutung von Sokrates' Wirken und Denken als Wendepunkt der westlichen Philosophie. Zusammen mit seinem Schüler Platon (428 - 348 v. Chr.) und dessen Schüler Aristoteles (384 - 322 v. Chr.) bilden sie das Fundament der westlichen Denkweise und Philosophie.

Heute wie damals lebt derjenige, der kritisch hinterfragt und nicht stets blind den Anordnungen der Herrschenden (und ihrer politischen Vertreter) Folge leistet, gefährlich. Auch Sokrates hatte sich zu seiner Zeit mit seiner unermüdlichen Fragerei nicht unbedingt nur Freunde gemacht. Während die einen die interessanten und erkenntnisreichen Dialoge und Sokrates' Hartnäckigkeit als Bereicherung für den Staat (die Polis) ansahen, war er manch einflussreichem und aufstrebendem Bürger eher lästig. Die Vorwürfe gegen ihn waren zahlreich und reichten von der Gottlosigkeit (Asebie) bis zu Schädling für die Gemeinschaft. Im Prozess (399 v. Chr.) vor einem der zahlreichen Gerichtshöfe der Attischen Demokratie verteidigte sich Sokrates so, wie er Jahrzehnte lang in Dialogen und öffentlichen Streitgesprächen wirkte: er stellte Ankläger und ihre Motive in Frage und beharrte auf seiner Rechtschaffenheit, zu der ihn die göttliche Stimme, der "Daimonion", verpflichte. Damit entkräftete er auch den Vorwurf der Gottlosigkeit. Er wurde dennoch mit knapper Mehrheit für schuldig befunden. Nachdem er in seiner zweiten Rede ausführte, daß sein Wirken für die Gesellschaft nützlich sei und er daher unter keinen Umständen das Philosophieren einstellen werde, wurde er mit einer nicht mehr ganz so knappen Mehrheit endgültig zum Tode verurteilt. Die Möglichkeit zur Flucht lehnte er mit dem Hinweis auf seine Rechtschaffenheit und seinem Respekt vor den Gesetzen ab. Gefasst trank er den Schierlingsbecher, der im Athen des 5. und 4. Jahrhunderts v. Chr. bei Hinrichtungen üblich war. 

„Aber schon ist es Zeit, dass wir gehen – ich um zu sterben, ihr um zu leben: wer aber von uns den besseren Weg beschreitet, das weiß niemand, es sei denn der Gott.“ (aus Platon "Apologie")