Geschichte und Bedeutung
Es ist bis heute nicht geklärt, wann Weiqi (der chinesische Name für Go) genau seinen Ursprung nahm. Fest steht nur, dass es in China gewesen sein muss, irgendwann vor unserer Zeitrechnung. Die ersten archäologischen Funde sind gute 2000 Jahre alt, davor verliert sich seine Spur in Mythen und Legenden. Schriftlich belegt ist seine Beliebtheit seit der Zeit der Han-Dynastie (206 v.Chr.-220 n.Chr.). Während der Tang-Dynastie spielte man es bereits am kaiserlichen Hof (617-907) und das Brettspiel zählte zusammen mit Lautenspiel, Kalligrafie und Malerei zu den vier klassischen Künsten, den Qin Qi Shu Hua. Weiqi (圍棋) ist die moderne Bezeichnung, das kurze Qi (棋) die klassische. Eine ähnliche Verbreitung und Bedeutung hatte es zu dieser Zeit auch in Korea, dort ist es seit damals als Baduk (바둑) bekannt und beliebt. Der Legende nach kam das Spiel erst durch einen Gesandten im Jahr 735 nach Japan. Im 712 verfassten Manuskript zur Frühgeschichte Japans, dem Kojiki, findet sich aber bereits ein Schriftzeichen für Go (碁). Im frühen 17. Jahrhundert, zu Beginn der Edo-Periode, entstand der Posten des Godokoro, der Go-Minister. Europa erreichte die Begeisterung für Go erst relativ spät. Die ersten Spielsets wurden in Wien und Leipzig um 1890 verkauft, die erste deutschsprachige Go-Zeitung erschien 1909 in Graz.
Die Bedeutung von Go in der östlichen Hemisphäre ist vergleichbar mit dem Stellenwert von Schach in der westlichen Welt und im Orient. Es wird seit dem 17. Jahrhundert in den drei genannten Ländern staatlich gefördert und große Turniere mit stattlichen Preisgeldern abgehalten. Einen regelrechten Boom erfuhr das Spiel in China und Korea in den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts, ebenso in Osteuropa. Die größte Go-Gemeinde außerhalb Asiens stellt Deutschland, der Deutsche Go-Bund zählt rund 2000 offizielle Mitglieder.
In Go ist nicht nur asiatische Geschichte lebendig, sondern auch fernöstliche Philosophie. Es gilt als absolut unpassend, sich während des Spiels mit etwas anderem zu beschäftigen oder mit den Steinen in den dafür vorgesehenen Behältnissen zu spielen oder gar damit nervös aufs Brett zu klopfen. Dem Gegner wird Respekt gezollt, damit das Spiel für keine der beiden Seiten als unangenehm empfunden wird. Mit Siegen zu prahlen oder sich verächtlich über den Gegner zu äußern ist tabu. Gespielt wird nicht auf aufgelegten Spielfeldern aus Plastik. Das traditionelle und angebrachte Brett ist mehrere Zentimeter dick und aus Holz. Die traditionellen Spielsteine bestehen aus geschliffenen weißen Muscheln und schwarzem Schiefer, heute oft aus Glas. Das japanische Spielbrett ist auch nicht quadratisch, sondern im Verhältnis 15:14 auf einer Seite verkürzt, um die perspektivische Verzerrung, die entsteht, wenn die Spieler von schräg oben aufs Brett schauen, auszugleichen und so den Eindruck eines perfekten Quadrats zu vermitteln.
Spielregeln
So einfach die Regeln auch erscheinen mögen, liegt die Raffinesse im Detail. Zwei Spieler (Schwarz und Weiß) setzen abwechselnd einen Stein auf einen der 361 Schnittpunkte der 19x19 Linien (es gibt auch Varianten mit 13x13 und 9x9 Linien). Zugzwang wie im Schach besteht nicht, man darf sich seines Zuges auch enthalten.
Schwarz beginnt und verfügt über einen Stein (361) mehr als Weiß (360). Dieser Vorteil wird mit Komi ausgeglichen, Zusatzpunkte für den Spieler mit Weiß. Diese sind in der Regel Zahlen mit halben Werten (zb. ½ oder 5½) um Unentschieden (Jigo) zu vermeiden. Die Höhe der Zusatzpunkte ist verschieden, die Bandbreite schwankt je nach Turnier zwischen ½ und 8½. Diese Zusatzpunkte werden am Ende bei der Abrechnung dazugezählt.
Die Steine werden gesetzt, sie werden nicht bewegt. Besitzt eine Kette (auch ein einzelner Stein oder eine Gruppe gilt als Kette) keine Freiheit, also kein freies angrenzendes Feld mehr, werden die auf diese Weise umzingelten (auch "Gefangenen" oder "Getöteten") vom Brett genommen. Es gilt: jede Kette muss nach Abschluss des Zuges mindestens eine Freiheit besitzen. Da nach erfolgreicher Umzingelung einer Kette, diese Steine ja vom Brett kommen, ist diese Regel dann erfüllt. Freiheiten werden nur durch Steine des Gegners eingeschränkt, nicht durch die eigenen. Besitzt eine Kette nur noch eine Freiheit, steht sie im Atari.
In manchen symmetrischen Stellungen kann die Situation eintreten, dass durch setzen eines Steins die letzte Freiheit eines gegnerischen genommen wird, dieser vom Brett kommt, aber im darauf folgenden Gegenzug der soeben gesetzte Stein ebenfalls seine letzte Freiheit verliert. Das würde eine endlose Setzen - Stein entfernen - Setzen - Stein entfernen - Schleife erzeugen. Hier gilt die Kō-Regel, die untersagt, im direkten Gegenzug einen einzelnen Stein zu schlagen (und zu entfernen), wenn dieser zuvor ebenfalls einen Stein geschlagen hat. Betrifft das eine unterschiedliche Anzahl von Steinen greift die Kō-Regel nicht. Das symmetrische Zurückschlagen ist erlaubt, aber nur mit einem Zug Verzögerung. Entstehen parallel mehrere Kō-Situationen auf dem Brett wird's besonders knifflig: mit Verzögerung darf ja sehr wohl in das entstehende freie Feld gesetzt werden. Sollte sich daraus trotz Kō-Regel eine Endlos-Schleife bilden, wird das Spiel abgebrochen und es gibt kein Ergebnis.
Passen beide Spieler, ist die Partie beendet, wenn nicht einer der Spieler vorzeitig aufgibt. Es werden alle freien Felder gezählt, die von eigenen Steinen umschlossen sind und zu den während des Spiels geschlagenen Steinen dazugezählt. Befinden sich darin noch Steine, die auf jeden Fall geschlagen werden können, gelten sie als Gefangene und kommen ebenfalls zu den geschlagenen. Für unerfahrene Spieler ist diese Zählung am Schluss manchmal etwas problematisch, sollte aber trotzdem nicht zum Streit führen. Hier gilt erstens "Respekt ist oberstes Gebot beim Go" und zweitens "Übung macht den Meister".
Digitale Revolution
Während im Schach die herkömmlichen elektronisch verarbeiteten Algorithmen in PC und Schachcomputern schon in den 90ern des letzten Jahrhunderts die weltbesten Spieler alt aussehen ließen, dauerte dies bei Go bis 2015. Sind im Schach "nur" 10⁴³ Stellungen möglich, sind es beim Go (gerundet) beachtliche 2,08 x 10¹⁷⁰ =
208 00000000 0000000000 0000000000 0000000000 0000000000 0000000000 0000000000 0000000000 0000000000 0000000000 0000000000 0000000000 0000000000 0000000000 0000000000 0000000000 0000000000
Zum Vergleich die bescheidene Anzahl aller Atome im Universum: 10⁸⁰ =
1 0000000000 0000000000 0000000000 0000000000 0000000000 0000000000 0000000000 0000000000
Diese schier unfassbare Zahl an daraus resultierenden Zugmöglichkeiten sorgt dafür, dass Computer - egal wie leistungsstark - der menschlichen Kreativität und seinem Einfallsreichtum lange unterlegen blieben. Aber dann betraten vor rund 10 Jahren endgültig gereift die absoluten Endgegner die Arena: neuronale Netzwerke und die in ihnen hausende Künstliche Intelligenz.
Die ersten Go-Programme erschienen in den frühen 80ern und liefen auf Commodore VC20 ("Gobang"), Commodore 64 ("Go") und Atari ohne ernstzunehmende Spielstärke. 2002 schrieb Erik van der Werf (NL) ein Programm ("MIGOS", der Mini GO Solver), dass Go-Variante 5x5 vollständig mit allen Zugmöglichkeiten durchrechnet. 2008 besiegte der Supercomputer Huygens (120x IBM Power5+ mit je 16 Kernen und 1,9 GHz Takt) in Amsterdam (NL) zwar erstmals einen Go-Profi, aber nur mit einer Vorgabe (Komi) von 9 Steinen. 2015 gewann "AlphaGo" vom Google DeepMind-Projekt dann das erste Mal gegen den mehrfachen Europameister Fan Hui (CN) - ohne Vorgabe - und 2016 vier von fünf Mal gegen einen der damals weltbesten Spieler, Lee Sedol (KOR). Dieser berichtete, er wäre noch nie und bei keinem seiner vielen Turniersiege dermaßen gefeiert worden, als bei diesem einen Sieg. Kein Wunder, mit "AlphaGo" und seinen mittlerweile drei (ständig rasant dazulernenden) Nachfolgern ist auch diese Vorherrschaft des menschlichen Geistes über die Maschine - spät aber doch - zu Ende gegangen.
Die von Go-Theoretikern schockiert registrierten unorthodoxen Spielzüge der Künstlichen (Go-)Intelligenz sollten die Art und Weise wie Profis ans Spiel herangehen für immer verändern. Galten viele dieser Züge bis dahin als fragwürdig oder unsinnig, wurden diese nun von vielen Spielern als neue, siegbringende Möglichkeiten ins eigene Repertoire übernommen. Die Aufteilung von Territorien und Einflusszonen und der Umgang mit Steinopfern erschien plötzlich in anderem Licht. Die bisher sich eher auf lokale Auswirkung ausgelegten Strategien, wichen langfristigen und das Gesamtbild beachtenden Taktiken. Training und Positionsevaluierung orientieren sich heute zunehmend weg von alten Traditionen hin zu datengetriebener Analyse inklusive unorthodoxer Züge. Künstliche Intelligenz sorgte also nicht für ein Ende des Jahrtausende alten Spiels oder nahm ihm die Spannung, im Gegenteil: sie brachte es in eine neue Epoche voll neuer Strategien und bis dato nicht gesehener Spieltiefe. Es gilt wie immer beim Umgang mit neuer Technik: es kommt darauf an, was man damit macht. Was für ein großartiges Spiel!