Man stelle sich vor, wir müssten uns immer noch mit I, V, X, L, C und den daraus gebildeten Kombinationen beim Rechnen herumschlagen. Höhere Mathematik mit diesem Zahlensystem? Undenkbar. Für die meisten ist diese mit den aktuellen schon schwer genug. Mit den römischen Ziffern geht sowas gar nicht, was beinahe 2000 Jahre in Europa aber niemanden störte. Man hatte wichtigeres zu tun: Völker wanderten, die Heiden mussten bekehrt werden und der Teufel lauerte hinter jeder Ecke. Gut, dass die alten Inder mystische Beziehungen zur Mathematik und ihren Zahlen pflegten, irgendwann kam das dann auch uns und dem Rest der Welt zugute.
Ursprünge
Die Ursprünge der heute als arabisch, indisch oder indo-arabisch bezeichneten Ziffern sind in der altindischen Brahmi-Schrift zu finden. Erste Aufzeichnungen derselben stammen aus dem 3. Jhdt v. Chr. aus der Zeit Kaiser Ashokas. Er regierte zwischen 268 und 232 v. Chr. das nordostindische Reich Magadha. Aus seiner Zeit fand man auch Inschriften ihres Vorläufers, der Karoshthi-Schrift, die wiederum auf ein aramäisches Vorbild (8. - 6. Jhdt v. Chr.) zurückgeht. Die Brahmi-Schrift ist eine Kombination aus Silben- und Buchstabenschrift, die auch Zahlen enthält. Sie entwickelte sich weiter zu Hindu (Gwalior) und schließlich zum heute in Indien noch (selten) verwendeten Sanskrit-Devanagari, dem Vorläufer des heute in Indien in weiten Teilen gebräuchlichen Hindi-Devanagari. So sieht die Zahl 2021 übrigens im aktuellen Hindi-Devanagari aus:
und so in aktueller indisch-arabischer Druckschrift (geschrieben wird von rechts nach links)
Auffällig ist die (nicht vorhandene) Null, die mit einem Punkt dargestellt wird. Das war früher gebräuchlich, mittlerweile wird die Leerstelle aber in Devanagari wie bei uns mit einer 0 gefüllt. Zu verdanken haben wir das dem indischen Astronom und Mathematiker Brahmagupta, der im Jahr 628 n. Chr. das "Brahmasphutasiddhanta" ("Der Anfang des Universums") verfasste, das erste Buch, in dem die Null als vollwertige Zahl behandelt wird. Das taten zwar auf der anderen Seite des Planeten auch die Maya, die hatten aber keinen Einfluss auf die Entwicklungen in Eurasien. Nun haben wir endlich unser Zahlensystem mit den 10 Ziffern: 0 1 2 3 4 5 6 7 8 9. Kleiner mathematischer Unterschied zu heute: Brahmagupta erlaubte die Division durch 0. Heute ist sie zwar auch erlaubt, aber falsch und bringt nichts, da sie nicht definiert ist. Sie ist erlaubt, aber trotzdem ein schwerer Fehler.
Verbreitung
Nachdem die Araber zwischen 640 und 644 n. Chr. den Irak und Persien erobert hatten, kamen sie in Kontakt mit den indischen Ziffern und begannen sie zu verwenden. Die ersten Hinweise darauf lieferte im selben Jahrhundert der syrische nestorianische Bischof Severus Sebokht. Die Nestorianer sind Anhänger einer christologischen Lehre, die nach Nestorius, dem Patriarchen von Konstantinopel (428–431), benannt ist. Im Westen unter Todesandrohung untersagt, gibt es noch Nachfolger dieser Tradition im Iran, Irak und Syrien.
Legendär ist mittlerweile der persische Mathematiker und Astronom al-Chwarizmi (daher stammt "Algorithmus"), der um 825 ein Werk über das "Rechnen mit indischen Zahlzeichen" verfasste. Erhalten ist es nur in einer lateinischen Übersetzung ("Algoritmi de numero indorum") aus dem 12. Jahrhundert. Im Laufe der Zeit haben sich die Ziffern weiter entwickelt und zu al-Chwarizmis Zeit hatten bereits die Gupta- und dann die Nagari-Ziffern die Brahmi-Ziffern abgelöst. Er gilt als einer der Begründer der Algebra und zählt heute noch zu den bedeutendsten Mathematikern aller Zeiten.
Papst Sylvester II (Gerbert von Aurillac), der von 999 - 1003 Oberhaupt der Christenheit war, gilt als einer der ersten, der die neuen Ziffern in Europa benutzte. Verbreitet haben sie sich dadurch allerdings nicht im geringsten. Sie in Italien einzuführen versuchte Leonardo von Pisa (1170 - 1240), der bei seinen Reisen nach Nordafrika, Byzanz und Syrien in Kontakt mit dem Werk al-Chwarizmis kam. Sein "Liber abbaci" ("Buch der Berechnung" oder "Rechenbuch", 1202) pries die Vorteile des indo-arabischen Zahlensystems gegenüber dem römischen und war ein bahnbrechendes Werk über Grundrechnungsarten, Handelsmathematik und geometrische sowie numerische Näherungen (Berechnung der Quadratwurzel und irrationaler Zahlen) und verbreitete sich in den darauf folgenden Jahrhunderten langsam in Europa. Es verhalf unseren heute, beinahe weltweit verwendeten, Ziffern zum Durchbruch. Er übernahm das arabische Wort "ṣifr" (für die 0 bzw. deren Leerplatz) und machte daraus "cifra" - daher unser Wort "Ziffer". Über die bekannteste Rechenaufgabe dieses Buches und der daraus resultierenden, nach dem Verfasser benannten, Fibonacci-Folge gibt es hier auf TechnoSoph einen eigenen Artikel.
In Europa gab es Anfangs Widerstand gegen die neuen Ziffern, unter anderem auch dadurch, dass die Zahl Null mit dem damals Furcht einflößenden "Nichts" verwechselt und gleichgesetzt wurde. In Florenz wurden die Ziffern 1299 aus Angst davor verboten. Endgültig zur Ablösung der römischen Zahlschrift kam es, nachdem in Deutschland ab 1522 die Rechenbücher von Adam Ries (1492 - 1559) veröffentlicht wurden. Diese drei Rechenbücher für den Unterricht und zur Ausbildung von Handwerkern und Kaufleuten erschienen nicht mehr in Latein, sondern in Deutsch. Durch die Erfindung des modernen Buchdrucks mit beweglichen Lettern (1450) durch Johannes Gensfleisch zur Laden zum Gutenberg (1400 - 1468) konnten sie sich rasch verbreiten. Adam Ries wurde durch seine Bücher zur Legende und "Rechnen nach Adam Riese" wurde im deutschen Sprachraum zur heute noch gebräuchlichen Redewendung. So sehr von vielen das Rechnen und Mathematik im Allgemeinen auch gehasst wird, arabische Ziffern sind nicht mehr wegzudenken und erleichtern mittlerweile unser aller Leben.
„Lerne fleißig das Einmaleins, so wird dir alle Rechnung gemein.“ Adam Ries