Dieser Artikel widmet sich der Geschichte und der Struktur von X. Erst wenn die wichtigsten Plattformen von TechnoSoph genauer betrachtet wurden ("Youtube, die Glotze für Alles und Jeden" hatten wir schon), folgt ein allgemeiner Beitrag zu Medientheorie und sozialen Medien. Ein bisschen Ordnung muss sein.
Entstehung
Es soll Leute geben, die immer noch SMS nutzen und dafür war auch Twitter ursprünglich gedacht. Daher die ursprüngliche Limitierung auf 140 Zeichen, aber die ist im heutigen Informationsrausch natürlich längst nicht mehr zeitgemäß. Sein Erfinder und Mitbegründer Jack Dorsey machte sich ab 2006 zusammen mit den ehemaligen Google-Mitarbeitern Biz Stone und Evan Williams daran, für deren Podcast-Startup Odeo einen Mikroblogging-Dienst zu entwickeln. Die Tragweite und die rasante Entwicklung des angeblich in zwei Wochen entstanden Prototyps waren damals für die drei nicht sofort absehbar. Das änderte sich rasch und noch im selben Jahr wurde mit dem Aufbau eines neuen Unternehmens, der Obvious Corporation, begonnen und Dorsey und Stone sicherten sich das Patent für die verwendete Punkt-zu-Mehrpunkt-Kommunikation. 2007 gliederten sie Twitter, Inc. von Obvious aus und landeten einen Volltreffer: aus den 5000 täglichen Tweets im ersten Jahr wurden 2008 300.000 und 2009 2,5 Millionen Tweets. Ein Jahr später, 2010 registrierten sich bereits 100 Millionen neue Nutzer - so schnell kann's gehen.
In diesem Jahr erschien auch die erste offizielle Twitter-App für iPhone und eine für Android. Davor konnte nur im guten alten Webbrowser gezwitschert werden. Bis 2014 kamen dann noch Versionen für Windows Phone, Blackberry, Firefox OS und einige Nokia-Geräte dazu und Millionen von Bots obendrein. Text- und somit Nachrichten generierende Programme gibt es seit den 60er Jahren, aber erst in sozialen Netzwerken finden diese virtuellen Existenzen ein optimales Habitat für Evolution und Verbreitung. 2013 schätzte Twitter ihre Anzahl bereits auf 25 Mio. - bei 500 Mio. Accounts.
Das Limit von 140 Zeichen wurde trotz zuvor anders lautender Aussagen von Dorsey 2016 aufgeweicht und ein Testbetrieb mit 280 Zeichen gestartet. Außerdem wurden von da an angehängte Multimedia-Dateien nicht mehr zu den 140 Zeichen dazugezählt. Von 2018 an wurden unliebsame User (Trolle, Richtlinien-Verletzer) versteckt (shadow banning). Eine Möglichkeit, die zu Manipulation und versteckter Zensur geradezu einlädt und wovon - wie auf den meisten Plattformen - auch ausgiebig Gebrauch gemacht wurde. Das Verfahren, das auch als visibility filtering bezeichnet wird, betraf nicht nur Verstöße gegen die Nutzungsbedingungen, sondern zunehmend auch der Regierung unliebsame Meinungen und Nachrichten. Das ärgerte nicht nur Anhänger der Oppositionspartei, sondern auch kritische Parteigänger der Demokraten, wie den bis heute reichsten Menschen des Planeten, Elon Musk. Der übernahm 2022 kurzerhand gleich den ganzen Laden. Erzrivale Jeff Bezos besaß damals schon die renommierte Washington Post und Beteiligungen an mehreren Medienunternehmen, da konnte Musk nicht zurückbleiben und ergänzte mit dem Kurznachrichtendienst sein ziemlich beeindruckendes Portfolio. So zügig wie er das politische Lager wechselte, tauschte er umgehend Logo, Namen und die halbe Belegschaft von Twitter - auch sowas kann schnell gehen.
Twitter Files und Übernahme
Jack Dorsey war bereits 2018 zum ersten Mal vor den US-Kongress geladen worden. Aufklärungsbedarf bestand u.a. wegen der immer zahlreicher werdenden Beschwerden bezüglich versteckter Zensur und Wahlmanipulation, ohne konkretes Ergebnis. Das wiederholte sich 2020 und 2021, diesmal durfte er zusammen mit Mark Zuckerberg (Meta) und Sundar Pichai (Alphabet) Rede und Antwort stehen, ebenfalls ohne nennenswertes Ergebnis.
Im Zuge der Übernahme 2022 versprach Elon Musk die (schlecht versteckte) Zensur abzustellen, so viele Bots wie möglich zu beseitigen und übergab alle firmeninternen Dokumente und die komplette innerbetriebliche Kommunikation an eine Reihe unabhängiger Journalisten wie Matt Taibbi (Substack, Rolling Stone), Bari Weiss (Wall Street Journal, New York Times) und Lee Fang (The Intercept, The Nation, Substack). Diese arbeiteten sich durch tausende Seiten Material, werteten sie aus und erstellten eine Zusammenfassung, die in mehreren Etappen von Dezember 2022 bis März 2023 als "Twitter Files" veröffentlicht wurde. Der Verdacht auf versteckte Zensur und parteipolitisch motivierte Manipulationen wurde bestätigt, für Dorsey hatten die offensichtlichen Falschaussagen vor dem Kongress (unter Eid) aber keine weiteren Konsequenzen. Taibbi bezeichnete das Bild, das sich aus den Firmeninterna ergab als "Frankenstein-Geschichte eines von Menschen erstellten Mechanismus". Dorsey sprach danach von "Fehlern", die gemacht worden seien. Ende gut, alles gut: Jack Dorsey war durch die Übernahme um rund eine Milliarde Dollar reicher, konnte sich von nun an in Ruhe seinem Parallelprojekt Bluesky widmen und auch Elon Musk hat wieder eine neue Milliardärsspielwiese gefunden.
X
Aktuell hat der Nachrichtendienst über 430 Mio. tägliche Nutzer. Die Anzahl registrierter Nutzer kann nur geschätzt werden, liegt aber dank gesperrter Accounts und einem riesigen Friedhof digitaler Karteileichen weit darüber. Das Angebot reicht mittlerweile von Spaces (Live-Audio-Chaträume), über X Ads, X Hiring bis zu X Premium, mit dem für einen Obolus von 3 bis 38 Euro pro Monat das für Normalo-User bestehende Limit von 280 Zeichen auf bis zu 25.000 Zeichen aufgebohrt werden kann. Darüber hinaus werden damit die Timelines werbefrei und die Reihung profitiert drastisch. Ähnliches bot bereits Twitter mit Twitter Blue und der Super-Follower-Funktion. Darüber hinaus bekommt man immer die neueste Version von Grok 3 für Echtzeit-Suche, Bildgenerierung oder für den kurzen Small Talk zwischendurch. Dieser (Chat-)Bot dürfte der einzige gern gesehene auf X sein und stammt von xAI, einem eigenständigen Unternehmen aus dem Hause Musk, das seit März 2025 ein Konsortium mit Nvidia, Microsoft und BlackRock bildet. Die restlichen (von EarthWeb auf 22 bis 65 Mio. geschätzten) Bots fühlen sich aber trotzdem wohl, so lange ihnen genügend menschliche Plaudertaschen und Doomscroller auf den Leim gehen. So richtig romantisch wird's aber erst, wenn sich zwei Bots kennen- und sch(w)ätzen lernen.
Betrieb
Die im Vergleich zu anderen Social-Media-Konzernen bescheidene Datenproduktion von 560 Gigabyte täglich wird permanent über tausende Server rund um den Globus geschaufelt und landet u.a. seit 2019 auch auf der Google Cloud Platform (GCP). Essentiell sind dabei die Optimierung des Datendurchsatzes und der Ausfallssicherheit. Die Proxy-Server zwischen den Datenschleudern von X und den Speicherlösungen von Alphabet haben einen maximalen Durchsatz von 77 GBit/s, da wird's schnell eng. Ausfallssicherheit wiederum kann nur durch permanente Echtzeit-Messungen von CPU-Auslastungen, Error-Raten, Latenzzeiten etc. erreicht werden. 400 Milliarden Echtzeit-Ereignisse am Tag wollen auch noch überprüft und umgehend weiter verarbeitet werden. Dabei flitzen in Summe Exabytes (Milliarden Gigabytes) an Informationen durch Prozessoren, Speicher und Caches. Das ermöglicht bei X seit 2017 eine metrische Datenbankarchitektur, die sich schon bei Facebook für zeitkritische Berechnungen bewährt hat: Gorilla. Diese In-Memory Time Series Database arbeitet als Write-Through-Cache, der die Monitoring-Daten der letzten 26 Stunden komprimiert speichert.
Apps
Posts, Direktnachrichten, Spaces, eigentlich alles, was der Anwender zu sehen bekommt, nutzt die 2020 eingeführte X API (Application Programming Interface, ehemals Twitter API) und läuft über HTTP-Anfragen auf MySQL-Datenbanken und ist daher mit Python, JavaScript, Ruby etc. kompatibel. X API ist zum Experimentieren und Testen gratis, bleibt aber beschränkt auf ein einziges Projekt, eine App, die Verarbeitung von max. 500 Posts im Monat und ist Write-Only um Missbrauch und zu viele Zugriffe auf die Lese-Endpunkte zu verhindern. Zur richtigen Prototypen-Entwicklung reicht das Basis-Paket um 200 USD im Monat. Wer professionelle Twitter-Anwendungen für Analyse, Suche, Filtern, Posts-Management und vieles mehr entwickeln möchte, darf 5.000 USD im Monat entrichten. Für größere Unternehmen sind gar keine Preise gelistet, die läuten bei einer anderen Glocke. TechnoSoph steht anscheinend wieder mal beim Lieferanteneingang. Praktisch sind solche Tools vor allem für Datensammler und -händler, wie dem Superstar der Überwachungsindustrie Palantir. Besonders praktisch: strenge Datenschutzbestimmungen gelten nur für einfache Bürger und kleine bis mittlere Unternehmen. Wer damit Big Business machen will, findet in Regierungsbehörden stets begeisterte Kunden und wird hofiert. Entwickeln kann man mit X API Web-Apps, Apps für Smartphones, Desktop-Anwendungen, Dienste für Server und für Marketing-Plattformen. Zu den bekanntesten Apps, die damit bisher entwickelt wurden, zählen Hootsuit (Social Media Management), TweetDeck (Echtzeit-Überwachung von Feeds), Sprout Social (Social Analytics und Kundenkommunikation), Buffer (Content-Planung und Performance Analyse) und Brandwatch (Marktforschung).
Teile des Programmcodes wie der Empfehlungsalgorithmus und einige Tools wurden von X 2023 auf GitHub veröffentlicht und sind quelloffen - ein Novum für kommerzielle soziale Netzwerke. Der Großteil bleibt natürlich weiter Betriebsgeheimnis. Aber immerhin wissen wir durch Offenlegung des Empfehlungsalgorithmus, dass Elon Musks Posts stets eine bessere Reihung bekommen als die gewöhnlicher User. Das sei ihm auch gegönnt, schließlich wird er ja auch im Ruhestand auf dem öden, roten Nachbarplaneten noch was zum Angeben brauchen.