Alchemist im Keller
Für alle Zeiten vergessener, unbekannter Alchemist in seinem Keller

Möglicherweise ist diese Frage für den passionierten Chemiker etwas abwertend formuliert, das ist aber nicht Absicht dieses Artikels. Die dieser Frage zugrunde liegenden Überlegungen haben viel mehr das Ziel, Chemie und die von ihr behandelten Prozesse verständlicher zu machen. Chemie hat ihren fixen und wohlverdienten Stellenwert innerhalb der modernen Naturwissenschaften, daran muss nicht gerüttelt werden. Ein Naheverhältnis und unbestreitbare Querverbindungen zur Physik sind aber offensichtlich.

Alchemie

Teilt sich die Chemie (altgr. chymeía, Kunst der Metallgießerei) heute in Fachbereiche wie organische Chemie (untersucht Kohlenstoffverbindungen), anorganische Chemie (Beziehungen der Elemente des Periodensystems) und die der Physik besonders nahestehende physikalische Chemie, gibt es auch noch Spezialbereiche wie Astrochemie, Umweltchemie, pharmazeutische Chemie, Elektrochemie, analytische Chemie und regelmäßig kommen neue dazu. Einen der ältesten Wünsche ihrer Vorläufer, der Alchemisten, aus weniger edlen Stoffen Gold zu erzeugen, hat man mittlerweile aufgegeben. Das gelingt inzwischen allerdings den Physikerkollegen im CERN (Conseil Européen pour la Recherche Nucléaire) nahe Genf bei Experimenten, bei denen im Teilchenbeschleuniger mit beinahe Lichtgeschwindigkeit Kerne von Bleiatomen (Pb, Ordnungszahl 82) aufeinanderprallen. Werden aus diesen Kernen drei Protonen herausgeschlagen, bilden sich für kurze Zeit Goldatome (Au, Ordnungszahl 79). Der Aufwand um daraus eine alchemistische Hi-Tech-Goldmine zu machen, lohnt sich im Verhältnis zur eingesetzten Energie aber leider nicht im Geringsten. Außerdem zerfallen die Goldatome nach eher kurzen Zeitspannen von einigen Attosekunden (10⁻¹⁸sek) bis Femtosekunden (10⁻¹⁵sek) wieder in weitere Produkte, wenn sie in die Seitenwand des Beschleunigers oder gegen andere Teilchen knallen. Ein weiterer Antrieb der mittelalterlichen Alchemie war die Suche nach dem Stein der Weisen (der heißt auf arabisch al-kīmiyá), der für Gesundheit und ewiges Leben sorgen soll. Auch Isaac Newton (1642-1727) verbrachte einen beträchtlichen Teil seiner Lebenszeit mit der geheimen Suche danach. An diesem Begehr hat sich seit damals nichts geändert, nur heißt der Stein heute Metformin, Rapamycin oder Resveratrol.

Chemie

Aufbauend auf dem Wissen zahl- (und noch öfter namen)loser Alchemisten und bekannter Größen wie Albertus Magnus (~1200-1280) wandelte sie sich im 17. Jahrhundert durch Arbeiten von Gelehrten wie dem Arzt und Naturphilosophen Paracelsus und dem Naturforscher Robert Boyle (1626-1692) vom mystisch inspirierten Experimentieren zu einer empirisch begründeten, ernstzunehmenden Wissenschaft, in der nun mit Waage und analytischer Überprüfung der durchgeführten Experimente neue Erkenntnisse gewonnen wurden. Einen regelrechten Schub bekam die Chemie in der ersten Phase der industriellen Revolution in der 2.Hälfte des 18.Jahrhunderts durch die Entdeckung der Wirkungsweise von Dünger und die Möglichkeit diesen künstlich zu erzeugen.  Diese, für die Landwirtschaft einschneidende, Veränderung verdanken wir Justus Liebig (1803-1873), der übrigens auch das Chloroform erfand. Auch Mittel zum Färben von Textilien wurden dringend gesucht. Die Entdeckung eines synthetischen Ersatzstoffs für Indigo und weiterer künstlicher Farbstoffe trieben die anorganische Chemie und die Entstehung riesiger Chemiefabriken weiter voran. Deutschland hatte damals auf diesem Gebiet die Nase vorn, außerdem gab's regelmäßig Krieg und auch für neue Sprengmittel und andere Kampfstoffe waren die Entdeckungen der Chemiker nützlich. Besonders die Nationalsozialisten waren von den neuen Möglichkeiten angetan, schließlich brauchten sie durch zunehmende Isolation auch Ersatz für Erdöl und seine Nebenprodukte. Diese für die chemische Industrie und die Kriegsführung unerlässlichen Bestandteile lieferten dann größtenteils US-amerikanische Konzerne (bis 1942). Die Chemiegiganten dieser Zeit sind die direkten Vorläufer der hier nicht weiter genannten multinationalen Superkonzerne von heute.

Physik

Die 2.Hälfte des 19.Jahrhunderts und besonders das frühe 20.Jahrhundert waren aber zugleich eine Epoche der Entdeckungen auf dem Gebiet der Atom-, Kern- und Quantenphysik. Die Periodentafel der Elemente (Periodensystem), die Dmitri Mendelejew (1834-1907) im Jahr 1869 erstmals veröffentlichte, wird von Physikern ebenso genutzt wie von ihren Chemikerkollegen. Der Zusammenhang zwischen den beiden Wissenschaften wurde seit Michael Faradays (1791-1867) Arbeiten zur Elektrolyse, der Entdeckung des Elektrons 1897 durch Joseph John Thomson (1856-1940) und Gilbert N. Lewis (1875-1946) Konzept der Elektronenpaarbindung immer klarer. Linus Pauling (1901–1994) erklärte die Elektronegativität und die Natur chemischer Bindungen. Erwin Schrödinger (1887–1961) und Werner Heisenberg (1901–1976) arbeiteten in den 20er und 30er Jahren des letzten Jahrhunderts an der Quantenmechanik und halfen damit die Elektronenhülle und ihre Rolle in chemischen Prozessen besser zu verstehen. Zu diesem Zeitpunkt wusste man bereits, wie die äußerste Elektronenhülle und Valenzelektronen chemische Bindungen und Reaktionen beeinflussen. 

Chemie und Physik

Diese Valenzelektronen (lat., valens = kräftig, wirksam) befinden sich bei den Hauptgruppenelementen (8 Hauptgruppen mit ähnlicher Anzahl Valenzelektronen) in der letzten, äußersten Schale, bei Übergangsmetallen (zusammen mit Lanthanoiden und Actinoiden in den 10 Nebengruppen) können sie auch in der darunterliegenden Schale auftauchen. Die Bezeichnung Valenz bezieht sich rein auf die potentielle Möglichkeit der Elektronen mit anderen Elektronenhüllen zu interagieren. Wichtig für chemische Verbindungen und Reaktionen ist auch das Vorhandensein von Lücken in der Hülle: ist bei einem Atom in der äußersten Hülle genau noch ein Platz für ein weiteres Elektron frei (die maximale Anzahl ist immer fest vorgeschrieben) und kommt ein Atom eines Elements mit nur einem Elektron und sonst lauter freien Plätzen vorbei, will das einsame Elektron unbedingt die Lücke des anderen schließen. So sind sie nun mal, die Elektronen, geladen, gesellig und ungern allein. Außerdem bestehen Atome auf vollen Plätzen in ihren Schalen, so bleiben fremde Einzelgänger nie lang allein. Der genannte Optimalfall von einem freien Elektron und genau einem freien Platz spricht für eine besonders starke chemische Reaktion oder Bindung. Ist keine Leerstelle frei, also alle Plätze restlos gefüllt, reagiert das Element so gut wie gar nicht. Dies ist der Fall bei den sogenannten Edelgasen (im Periodensystem ganz rechts und schön untereinander). Xenon, Argon und Konsorten kommen daher immer zum Einsatz, wenn keine Reaktion mit anderen Stoffen gewünscht ist. Beim Wasserstoff ist genau das Gegenteil der Fall: der hat bekanntlich nur ein Elektron (da nur ein Proton im Kern) und will daher ständig mit allem reagieren. Kein chemisches Element ist unternehmungsfreudiger und sorgt derart schnell für Reaktion (und Explosion). Daher beträgt der offiziell geforderte Mindestabstand für Wasserstofftankstellen 100m vom nächsten Wohn- oder Gewerbeobjekt. Die Katstrophe des mit Wasserstoff gefüllten Zeppelins "Hindenburg" 1937 wurde auf Film verewigt und dient als trauriges Anschauungsmaterial für reaktionsfreudig des ersten und leichtesten Elements. 

Es muss ja nicht immer gleich krachen, betrachten wir den langsameren Vorgang des Rostens: Eisen (Fe) ist bekannt für seine Reaktionsfreudigkeit im Kontakt mit Luft. Einen nicht unbeträchtlichen Anteil (21%) an den Atomen in unserer Luft hat Sauerstoff (O), dieser hat 2 freie Plätze (von maximal 8). Eisen wiederum gibt gern 2 Elektronen (2 Plätze belegt von maximal 32) bei der Oxidation ab, während Sauerstoff damit seine leeren Plätze füllt (Reduktion). Das mehr oder weniger gemächlich auftretende Ergebnis ist Eisenoxid, der ungeliebte Rost (Fe₂O₃). Salze als Katalysatoren und die in der Luft enthaltene Feuchtigkeit in Form von Wassermolekülen beschleunigen diesen Vorgang. Metalle mit nur einem Valenzelektron oxidieren natürlich am schnellsten, das sind u.a. die Alkalimetalle wie Lithium (Li), Natrium (Na) und Kalium (K), die bereits beim Kontakt mit Luft oder Wasser zum Teil heftigst reagieren. Da ist beim Experimentieren und Lagern höchste Vorsicht geboten. Auf keinen Fall darf auf die für uns wichtigste Bindung des reaktionsfreudigen Wasserstoffs vergessen werden: die Wasserstoffbrückenbindung im Wassermolekül, bestehend aus zwei Wasserstoffatomen und einem Sauerstoffatom.

Die beschriebenen chemischen Prozesse wurden hier ausschließlich mit den Mitteln der Physik beschrieben. Andersherum benutzen aber auch Physiker die Formalsprache der Chemiker um ihrerseits physikalische Experimente zu beschreiben (hier ein Beispiel). Es gibt natürlich auch chemische Prozesse, die ihre Ursachen im Atomkern oder niedrigeren Elektronenniveaus (=Schalen) als den äußersten haben, wie Säure-Basen-Reaktionen, die durch Protonenübertragung beeinflusst werden oder photochemische Prozesse, in denen Photonen die treibenden Akteure darstellen (zb. bei der Photosynthese). Trotzdem sind es wieder Elektronen mit denen diese wechselwirken und temperaturbedingte Reaktionen (Hitze, thermische Zersetzung) weisen ebenso wieder in Richtung Physik. Wie viele andere Wissenschaftszweige sind auch diese beiden aufs engste miteinander verknüpft, deren Trennung  der Historie und der immer weiter voranschreitenden Spezialisierung geschuldet ist. TechnoSoph bleibt bei der These, dass jede chemische Reaktion durch physikalische Prozesse erklärt werden kann, aber nicht umgekehrt. Physik scheint das Fundament zu bilden, auf dem die Chemie ihre Fabriken baut. Chemie bewegt sich stets auf molekularer Ebene, während Physik die zu Grunde liegenden Gesetze erforscht.

Wahrscheinlich scheinen daher Physiker oft mit einem leichten Hang zur Theorie gesegnet, während Chemiker dafür gern mit beiden Beinen auf dem Boden der Praxis stehen - Ausnahmen bestätigen natürlich auch hier die Regel. Letztendlich bilden die beiden Disziplinen aber ein naturwissenschaftliches Geschwisterpaar, das in Bereichen wie der Nanotechnologie oder der Materialwissenschaft aufs Engste kooperiert. Und vergessen wir nicht: die großen Pioniere, die den jahrtausendelangen Weg in die heutige Wissenschaftswelt geebnet haben, waren ohnehin nie nur in einem einzigen Wissensgebiet bewandert, sondern umfassend gebildet. Welche Auswirkungen ihre Entdeckungen in der Zukunft haben werden, war ihnen aber trotzdem oft ebenso wenig bewusst wie den heutigen Experten in ihren jeweiligen Fachgebieten. Aber was soll's, Fortschritt muss sein.